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Lilli Löbsack

Quo vadis, Brasilien?

Ein Land zwischen Demokratie und rechtsradikalem Autoritarismus

Verwirrende Eindrücke bei der Jahreskonferenz der Deutsch-Brasilianischen Juristenvereinigung (DBJV) im südbrasilianischen Porto Alegre

Dezember 2019

Mitte November 2019 tagte die DBJV in Porto Alegre. Zum Tagungsprogramm gehörte auch eine Live – Schaltung in die Sitzung des IV. Regionalen Bundesgerichts, das eine wesentliche Rolle in den Gerichtsverfahren gegen den früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, (2003 bis 2010) wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche spielt.

1. Lula, neuer Hoffnungsträger der brasilianischen Linken?

Überraschend wurde Lula Anfang November 2019 nach Verbüßung von 18 Monaten Haft aus dem Gefängnis der Bundespolizei in Curitiba/ Bundesstaat Paraná entlassen.

Seine Entlassung verdankt Lula der juristisch umstrittenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (STF), wonach eine Strafe erst nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel vollstreckt werden könne. Bis zur rechtskräftigen Verurteilung gelte nunmehr, so die Begründung, die in Art. 5 Nr. 57 der Verfassung von1988 garantierte „Unschuldsvermutung“. Außer Lula sollen rund 5000 – meist wegen Korruption verurteilte Brasilianer – freikommen.

Im Juli 2017 war Lula von dem damaligen Bundesrichter Sérgio Moro – seit Januar 2019 Justizminister in der Regierung Bolsonaro – im Zusammenhang mit Brasiliens größtem Korruptionsskandal „Lava Jato“ zu über 9 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt worden. Im Januar 2018 bestätigte das Berufungsgericht in Porto Alegre den Schuldspruch, erhöhte die Strafe jedoch auf 12 Jahre, die wiederum im April 2019 vom Obersten Bundesgericht auf 8 Jahre und 10 Monate herabgesetzt wurde.

Wegen des Urteils des Berufungsgerichts von Anfang 2018 schloss das Oberste Wahlgericht (STE) im September 2018 Lula von den anstehenden Wahlen im Oktober aus und verwies zur Begründung auf das sog. „Gesetz der Reinen Weste“ (Ficha Limpa), das Lula noch während seiner Amtszeit 2010 selbst eingebracht haben soll. Dieses Gesetz tritt für saubere Wahlen ein und soll verhindern, dass in zweiter Instanz verurteilte Personen für öffentliche Ämter kandidieren, unabhängig davon, ob alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden.

Damit war der Weg frei für den rechtsradikalen Jair Messias Bolsonaro, der am 01.01.2019 sein Amt antrat.

Ende November 2019 – also nach Lulas Freilassung – bestätigte dasselbe Berufungsgericht in Porto Alegre ein zweites Urteil gegen Lula wegen Korruption und Geldwäsche, das die Nachfolgerin von Sérgio Moro im Februar 2019 gefällt hatte. Jetzt erhöhte das Gericht die Strafe der ersten Instanz von 12 auf 17 Jahre mit der Begründung, Lula sei als Präsident vor allen anderen zur Achtung von Recht und Gesetz verpflichtet, seine Schuld wiege daher besonders schwer.
Gegen Lula sollen noch weitere sechs Anklagen in Vorbereitung sein.

In Brasilien wird zurzeit spekuliert, ob der Oberste Gerichtshof das erste Urteil gegen Lula wegen Befangenheit von Richter Moro aufheben werde. Es bestünden Zweifel an seiner richterlichen Unabhängigkeit, da Moro sich vor dem Urteil vom Juli 2017 intensiv mit der Staatsanwaltschaft abgesprochen habe.

Sofort nach seiner Haftentlassung hat Lula begonnen, die Anhänger seiner Arbeiterpartei, der „Partido dos Trabalhadores“ (PT), um sich zu sammeln mit dem Ziel, die rechtsradikale Regierung von Jair Bolsonaro bei den Kommunalwahlen 2020 zu besiegen und die Präsidentschaftswahlen 2022 zu gewinnen.

2. Präsidentschaftskandidat Lula in 2022?

Die Chancen Lulas, bei den Wahlen 2022 als Präsidentschaftskandidat antreten zu können, halte ich für gering. Seine Anhänger werden wohl, wie bereits in 2018, auf Lula als Kandidaten verzichten müssen. Das könnte auch dann gelten, wenn das Urteil des damaligen Richters Moro wegen Befangenheit aufgehoben werden sollte.

Um 2022 zur Wahl zugelassen zu werden, müsste auch das zweite Berufungsurteil vom November 2019 aufgehoben werden. Dafür liegen bisher meines Wissens keinerlei Anhaltspunkte vor. Gegen die Nachfolgerin von Sérgio Moro wurden ähnliche Vorwürfe, wie Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit, nicht erhoben.
Nach meiner Auffassung wird Lula in 2022 nicht kandidieren können, es sei denn, es gelänge seinen Anwälten, alle Urteile mit Erfolg anzufechten oder deren Rechtskraft bis nach der Wahl zu verhindern. Falls die Urteile rechtskräftig werden, muss Lula die Haft antreten und kann sich gemäß dem Gesetz der „Reinen Weste“ (Ficha Limpa“) erst frühestens 8 Jahre nach Verbüßung der Haftstrafen wieder um ein öffentliches Amt bewerben.

Im Augenblick zeigt sich Lula noch sehr kämpferisch und siegessicher.

3. Präsident Bolsonaro

Der seit Januar 2019 amtierende rechtsradikale Präsident gilt vielen Brasilianern, insbesondere natürlich den Anhängern Lulas, als unfähig, als unprofessionell und ignorant. Seine Wähler, die ihn bei der Stichwahl im Oktober 2018 ins Amt getragen haben, gehören u.a. der evangelikalen Kirche an, sind Gegner von Abtreibungen, sie sind Großgrundbesitzer und Waffenliebhaber. Sie erhoffen sich – wie im Übrigen auch die brasilianische Elite – eine Verbesserung der Wirtschaft, die Eindämmung von Verbrechen und die Absenkung der Arbeitslosenzahl. Ein maßgebliches Ziel der Regierung ist nach den Worten des brasilianischen Umweltministers auch die „Monetarisierung des Amazonas“ auf Kosten der indigenen Völker Brasiliens.

Im November 2019 rief Bolsonaro, der als Abgeordneter neunmal die Partei wechselte, eine neue Partei aus unter dem Namen „Allianz für Brasilien“ und dem Motto „Gott, Familie. Heimat“. Vorrangiges Ziel dieser neuen Partei des Präsidenten ist die Bekämpfung von Kommunismus und Pluralismus. Parteivorsitzender ist Bolsonaro selbst, Stellvertreter sein Sohn Flavio Bolsonaro, Senator für den Bundesstaat Rio de Janeiro. Kurz zuvor traten beide aus der sozialliberalen Partei („Partido Social Liberal“; PSL) aus, der sie sich erst im März 2018 angeschlossen hatten und die dank der Bolsonaros 2018 zweitstärkste Partei im Parlament geworden war.

Damit die neue Partei bei den nächsten Kommunal- und Präsidentschaftswahlen antreten kann, benötigt sie mindesten 500.000 Unterschriften aus neun Bundesstaaten.

Zum Schluss möchte ich des „Volkes Stimme“ zitieren:

Bei Fahrten durch Porto Alegre fragte ich zwei Taxifahrer nach ihrer Meinung zu Bolsonaro und zu Lula. Bolsonaro hielten beide übereinstimmend für den besten Präsidenten, den Brasilien je gehabt habe, Lula wurde als Monstrum bezeichnet, der mit seiner korrupten Arbeiterpartei das Land heruntergewirtschaftet und Brasilien dem Kommunismus habe ausliefern wollen.

Richtig ist, dass Lula für viele Brasilianer noch immer eine fast mythische Figur ist. Von seinen Anhängern wird er tief verehrt, von seinen Gegnern noch tiefer gehasst.

Eine vernünftige Diskussion über die historische Rolle Lulas, der Brasilien in seiner Amtszeit veränderte wie kaum ein Präsident vor ihm, ist seit einigen Jahren und noch weniger nach den letzten Ereignissen möglich.

Die größeren Chancen, die Wahlen in 2022 zu gewinnen, gleichgültig welcher Partei er letztlich angehört, hat gegenwärtig der amtierende Präsident, es sei denn, Lulas Partei schlösse mit anderen Parteien – im Parlament sind zurzeit 26 Parteien vertreten- ein Bündnis. Diese Hoffnung ist gegenwärtig unrealistisch, weil eine Reihe von Parteien nach seiner Haftentlassung bereits signalisiert hat, mit der PT keinesfalls ein Mitte-Links–Bündnis eingehen zu wollen.