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Lilli Löbsack

Brasilien: Chronik einer politischen Krise

Seit Wochen spielt der brasilianische Präsident, Jair Messias Bolsonaro, systematisch die Bedeutung des Corona-Virus  Covid 19 für sein Land herunter. Er bezeichnet es abwechselnd als „gripezinho“ (Grippchen), als Fantasie oder als  „popelige“ Krankheit. Er macht sich öffentlich lustig über die von den Gouverneuren der Bundesländer zur Bekämpfung des Virus angeordneten Maßnahmen, die er als bloße Hysterie beschimpft.

Ende März löschte Twitter zwei Tweets Bolsonaros, in denen er den Sinn von Isolationsmaßnahmen im Kampf gegen das Corona – Virus in Zweifel zog. Twitter begründete die Löschung damit, sie widersprächen den Informationen der Weltgesundheitsbehörde über die  Corona-Pandemie und erhöhten das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus.

Bolsonaro kritisierte die Schließung von Shopping Malls und ermutigte, seine treuen Anhänger, die rechtsradikalen, evangelikalen Sekten, weiterhin ihre Massen-Gottesdienste ohne Einhaltung irgendwelcher  Abstands- und Hygieneregeln abzuhalten.

Überzeugt von der Wirksamkeit des Malariamittels Chloroquin gegen das tödliche Virus, veranlasste Bolsonaro die Armee, die Produktion von Chloroquin auszuweiten. „Er würde nicht zögern, es seiner eigenen Mutter zu geben, wenn sie sich anstecken sollte“, äußerte er in einem Interview. Zwischenzeitlich wurde bekannt, dass elf mit Covid 19 infizierte Menschen, an denen Chloroquin getestet wurde, in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, nach dem Test gestorben sind.

Mitte April entließ der Präsident seinen hochgeschätzten Gesundheitsminister, der eine Isolation aller Bürger für zwingend notwendig hielt. An dessen Stelle ernannte er einen seiner Anhänger, von dem wenig Widerstand zu erwarten ist. Gleichzeitig rief er die Brasilianer auf, – trotz der in den meisten Bundesländern dekretierten Ausgangssperre – zurück zur Arbeit zu gehen, um die schon vor der Pandemie schwächelnde Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Öffentlich behauptete er mehrmals, ihm als Präsidenten stehe absolute Macht zu. Die Mehrheit der Brasilianer folgte jedoch der Mahnung der Gouverneure, indem sie zu Hause blieb, und nicht der Aufforderung des Präsidenten folgte.

Auf die Frage, warum er nicht mehr gegen die steigende Zahl von Corona-Toten unternähme, antwortete der Präsident: „Was wollt Ihr, dass ich dagegen tue. Mein zweiter Vorname ist zwar Messias, aber ich vollbringe keine Wunder“.

Wenige Tage nach der Entlassung seines Gesundministers nahm der Präsident am 19. April, dem Tag der „Forças Armadas“, an einer Demonstration vor dem Hauptquartier der Streitkräfte in Brasilia teil, in dem er demonstrativ Hände schüttelte. Die Demonstranten forderten die Auflösung des Obersten Gerichts (Supremo Tribunal da Justiça), des Parlaments und die Wiedereinführung des AI 5 ( Ato Institucional Nr. 5). Der AI 5 war ein berüchtigtes, gesetzlich verankertes Instrument der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985), dem Hunderte Oppositionelle zum Opfer gefallen sind und in dessen Namen Unzählige verhaftet, gequält und gefoltert wurden. Bis heute wurden diese Verbrechen nicht aufgearbeitet. Der Präsident selbst verherrlichte immer wieder das Militärregime, in dem er es verharmlosend als „Militärperiode“ hinstellte. Bei der Demonstration am „Dia das Forças Armadas“ schloss er sich den Forderungen seiner Anhänger nach einer militärischen  Intervention an.

Mit seinem Auftritt vor den Putschisten hat der Präsident eine Schwelle überschritten, die ihn das Amt kosten und das Militär auf den Plan rufen könnte.

Wegen seines von erratischer Inkompetenz und amateurhafter Improvisation geprägten Politikstils hält sich Bolsonaro – so wird vermutet – nur durch die Unterstützung der Militärs an der Macht. In seinem Kabinett sitzen mehr Militärs als zur Zeit der Militärdiktatur.  Insgesamt sind es sieben Militärs, darunter vier Ex-Generäle, die u.a. zuständig sind für so wichtige Ressorts wie Bergbau und Energie, Wissenschaft und Technologie und Infrastruktur. Auch sein Kabinettschef und sein Vizepräsident, der im Falle des Rücktritts oder der Absetzung von Bolsonaro ihm im Amt nachfolgen würde, gehören dem Militär an.

Die gegenwärtige Krise erreichte einen neuen Höhepunkt durch den Rücktritt von Justizminister Sérgio Moro. Moro gilt in Brasilien als die Verkörperung des Kampfes gegen Korruption. In seiner etwas larmoyanten Pressekonferenz legte Moro die Gründe für seine überraschende Entscheidung dar. Der Präsident habe in seine Zuständigkeit als Minister für Öffentliche Sicherheit eingegriffen, – außer der Justiz umfasste sein Ministerium auch die „Segurança Pública“ darunter die Bundespolizei. Moro warf dem Präsidenten vor, gegen seinen Willen den Chef der Bundespolizei entlassen zu haben, um den Posten mit einem Freund zu besetzen.

Als der Präsident jedoch seinen alten Bekannten, den Direktor des Geheimdienstes, (Abin- „Agencia Brasileira de Intelligencia) zum Chef der Bundespolizei ernannte, der ihn schon während seines Wahlkampfes unterstützt hatte, griff das Oberste Gericht ein. Die Bundespolizei wurde ermächtigt, wegen der wechselseitigen Vorwürfe sowohl gegen den Präsidenten als auch gegen den Ex-Minister Moro, Ermittlungen zu führen.

In seiner Vernehmung vor der Bundespolizei gab Moro auch an, der Präsident habe aus persönlichen und politischen Motiven  mehrfach versucht, den Leiter der Polizeibehörde von Rio de Janeiro auszuwechseln, um ihn mit einer ihm nahestehenden Person zu besetzen.

Daraufhin setzte ein abstruses „Ping-Pong-Spiel“ zwischen dem Präsidenten und seinem Ex-Minister ein. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Präsident sich Zugang zu Ermittlungen gegen seine Söhne verschaffen will. Es wird vermutet, dass die Söhne an Geldwäschegeschäften beteiligt waren. Darüber hinaus steht der Verdacht im Raum, einer der Söhne sei Mitwisser des Mordes an einer Stadtverordneten von Rio de Janeiro.

Die Bundespolizei hat einen weiteren Sohn des Präsidenten im Visier, der als Kopf des sogenannten „Kabinetts des Hasses“ vom Präsidentenpalast aus Kampagnen führen soll, um die Stimmung im Land weiter aufzuheizen.

Bolsonaro stellt zwar den Vorwurf der Einmischung nicht in Abrede, rechtfertigt ihn aber  damit,  Moro unterstünden schließlich 26 von insgesamt 27 Landespolizeibehörden,  während er nur die Leitung der Behörde in Rio de Janeiro mit einem Kandidaten seiner Wahl besetzen wollte.

Derweil schlittert Brasilien in eine schwere Wirtschafts- und Gesundheitskrise. Brasiliens Bruttosozialprodukt wird  um mehr als 5 % einbrechen. Die Pandemie hat  das Land – nicht zuletzt aufgrund des irrlichternden Verhaltens des Präsidenten – schwer getroffen. Die Corona-Statistiken, die schon wegen der unbekannten Zahl der Tests kritisch gesehen werden muss, zeigen steil nach oben. Inzwischen sind über  12400 Tote und über 177 589 Infizierte zu beklagen. (Stand 13.05.2020) Täglich werden mehr als 10.000 neue Fälle registriert. Das ohnehin prekäre öffentliche Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps.

Die Anschuldigungen Moros geben den Forderungen nach einem Absetzungsverfahren gegen den Präsidenten neuen Aufwind. Inzwischen stapeln sich auf dem Tisch des Präsidenten des Abgeordnetenhauses in Brasilia mehr als 20 Anträge auf Einleitung eines Impeachments (Amtsenthebung) gegen Bolsonaro.

Brasiliens politische Auguren halten jedoch zu Recht den Erfolg eines neuen Impeachments gegen den Präsidenten – das letzte fand im August 2016 gegen Dilma Rouseff statt – für nicht aussichtsreich. Viel wahrscheinlicher ist dagegen die Übernahme der Macht durch das  Militär – in welcher Form auch immer.

Berlin, den 13. Mai 2020

Lilli Löbsack,  Mitglied des DGLI-Präsidiums und Strafverteidigerin in Berlin